Hilfestellungen und Korrekturen in Asana
Der Artikel "ANATOMIE - Hilfestellungen und Korrekturen in Asana" von Claudia Dahnelt ist als Titelthema im Deutsches Yoga-Forum (Heft 06/2020) erschienen.
Die Evolution hat für den Menschen eine Gebrauchsanweisung vorgesehen, die er aus gesundheitlichen Gründen befolgen sollte.
Immer mehr Menschen haben aufgrund mangelnder Bewegung und dem Verharren in einer Sitz-Beuge-Position eine schlechte Körperhaltung. Über Jahre schleifen sich falsche Bewegungsmuster ein, die der Körper als normal abspeichert. Der Mensch hat seine ihm angeborene evolutionäre Fähigkeit verloren, sich vielfältig den Umständen entsprechend anatomisch funktionell zu bewegen. Jetzt benötigt er Bewegungsanweisungen nicht nur im Yoga, sondern bei allen körperlichen Betätigungen. Damit Bewegung wieder erlernt werden kann, braucht es fachkundige Anleitung, ein achtsames Hineinspüren in den Körper, regelmäßiges Üben und die Integration der funktionellen Bewegungen in den Alltag.
Letztendlich bringt uns die Körperarbeit in den Zustand des Yoga: raus aus dem Kopf, rein in den Körper, weg vom Grübeln, hin zum Spüren und Erfahren. Sie macht uns achtsamer und bewusster.
Anatomisch korrekte Ausrichtung ist notwendig
Auch wenn im Vergleich zu Sportarten wie Fußball, Yoga sanft und ausgleichend scheint, kann man sich beim Praktizieren verletzten. Ein permanent falsch geübtes Asana zeigt sich unter Umständen erst nach Jahren in einem geschädigten Knie- oder Hüftgelenk. Eine anatomisch sinnvolle Yoga Praxis sowie Hilfestellungen und Korrekturen sind wesentlich für die Gesundheit. Alignment (engl. Ausrichtung) kann zudem therapeutisch wirken und Fehlstellungen sowie daraus entstandene Schmerzen (dukha) lindern oder gar beseitigen. Der Yoga-Praktizierende fühlt sich dann wohl (sukha) in seinem Körper.
Verhärtete Faszien und nicht integrierte Gelenke blockieren die Energieströme (Prana). Aus eigener Erfahrung und durch Rückmeldungen von Teilnehmenden weiß ich, dass Asanas schon durch kleine Korrekturen intensiver erfahren werden. Der Praktizierende spürt seine Lebendigkeit in Form von Wärme oder einem Gefühl von Strömen und Fließen im Körper. Er wird sich seines Daseins bewusst, weil er diese Lebenskraft spürt. Dadurch erfährt er Verbundenheit und Glückseligkeit. (sat-chit-ananda)
Es geht nicht darum, ein Asana lehrbuchmäßig auszuführen. Manche Menschen können aufgrund ihrer persönlichen Disposition Stellungen wie Lotussitz oder Kopfstand nie meistern. Trotzdem können diese Teilnehmer durch anatomisch korrektes Üben Kraft und Flexibilität in Schulter- und Hüftgelenken verbessern, um sowohl Freiheit als auch Stabilität zu erfahren.
Anatomisches Wissen ist die Grundlage
Gute Kenntnisse der funktionellen Anatomie sind essenziell für eine gelungene Ausrichtung. Es reicht nicht, Name und Lage von Knochen und Muskeln zu kennen. Yogalehrende müssen wissen, in welcher Position ein Gelenk entweder beweglich oder stabilisiert ist. Welche Muskeln bewegen ein Gelenk und welche Bänder und Muskeln sichern es? Wie sitzt die Gelenkkugel zentriert in der Gelenkpfanne? In welchen Körperteilen braucht es in welchen Stellungen Stabilität oder Flexibilität? Welche typischen Fehlausrichtungen gibt es bei den Teilnehmern und warum entstehen sie?
Diese Kenntnisse sind nötig, um korrekt ausrichten zu können und um präzise Ansagen zu machen. Ohne anatomisches Wissen (vidya) machen Yogalehrende falschen Ansagen, weil sie kleine Unterschiede nicht erkennt . „Um das Becken aufzurichten, schieb dein Schambein nach vorne.“ Schiebt man das Schambein nach vorne, muss sich der Oberkörper nach hinten verlagern, um die Balance zu halten. Das staucht die Lendenwirbelsäule ins Hohlkreuz. Richtig wäre (viveka, das Schambein zum Bauchnabel anzuheben, damit sich das Becken mit Hilfe der Beckenbodenmuskulatur aufrichtet und der untere Rücken loslassen kann. Yogalehrende müssen feinfühlig am eigenen Körper experimentieren. Nur aus einem soliden Verständnis der Anatomie und Erfahrung entwickeln sie so korrekte und vor allem authentische Ausrichtungsansagen.
Unterschiedliche Arten von Hands-on
Grundsätzlich gilt es zwischen Hilfestellungen und Korrekturen zu unterscheiden. Eine Korrektur – auch neudeutsch Adjustment genannt – ist ein kurzer Griff, der in eine bessere Ausrichtung helfen soll. Dies kann positionierend sein, so dass der Schüler die grobe Form der Stellung (annähernd) einnehmen kann. Stabilisierend, um dem Schüler zu helfen, eine sichere Basis aufzubauen, bevor er tiefer in die Stellung geht. Oder öffnend, indem mehr Bewegungsraum und Entlastung in den Gelenken geschaffen werden.
Eine Hilfestellung (Assist) unterstützt den Schüler, tiefer in eine Stellung zu kommen. Der Lehrende nimmt sich Zeit, um den Schüler tiefer in die Asana hineinzuführen. Er kann den Schüler auch komplett ausrichten und zusätzlich durch Dehnung und Druck unterstützen. Therapeutische Hands-on wie im Thai-Yoga und Passiv-Yoga eignen sich eher im Personal Training.
Folgende Möglichkeiten gibt es, um einen Schüler auszurichten:
- Mit Worten: Nicht jede Formulierung wird von jedem verstanden. Ansagen müssen variantenreich und trotzdem korrekt sein. Grammatik, anatomische Begriffe und Richtungsanweisungen müssen stimmen. Damit man die Teilnehmenden nicht zu lange in einer Stellung ausharren lässt, braucht es präzise und knappe Ansagen. Eine bildhafte Sprache macht Korrekturen verständlich und erinnerbar: „Ziehe die Eckpunkte deiner Schultern auseinander, so wie man ein T-Shirt auf einer Wäscheleine aufspannt.“ „Hebe das Schambein zum Bauchnabel, als würdest du den Reißverschluss deiner Hose schließen.“
- Mit Händen: Um den Schüler nicht zu destabilisieren oder zu irritieren müssen die Handgriffe ruhig und sicher sein. Yogalehrende müssen genau wissen, wo sie ihre Hände anlegt. Vorsicht ist geboten, um nicht die Geschlechtsorgane zu berühren. Nicht zu fest und nicht zu sanft sollte der Griff sein. Legt man die flache Hand an, verhindert man ein Greifen, Kratzen oder Kitzeln mit den Fingern. In der englischen Sprache gibt es die treffenden Begriffe „liquid hands“ (flüssige Hände) und „bone to bone“ (Knochen auf Knochen).
Man kann auch mit Füßen oder Körper Hilfestellungen geben. Mit dem eigenen Fuß kann man den Fuß des Yogaschülers stabilisieren oder den Oberschenkel in Rückenlage erden. Ein respektvoller Umgang mit dem Yogaschüler ist unabdingbar. Füße gehören nicht in die Nähe des Gesichts. Eine Korrektur mit dem eigenen Körper sollte nicht intim werden.
- Mittels Demonstration: Wie eine Asana vor und nach der Korrektur aussieht kann man als Lehrender selbst demonstrieren oder an einem Schüler. Dafür bittet man die anderen Schüler näher zu kommen und von der Seite zu schauen, von der aus die maßgeblichen Details zu sehen sind. Vor einer Demonstration am Schüler unbedingt fragen: „Darf ich an dir zeigen, wie man im herabschauenden Hund die Schultern ausrichtet?“ Wenn die Zeit reicht, kann man Fragen zu lassen. Abschließend sollte man sich versichern, dass alle verstanden haben und die wichtigsten Punkte des Alignments zusammenfassen.
- Durch Partnerübung: Diese sind eher für erfahrene Yogaschüler geeignet. Man muss sich bewusst machen, dass viele Schüler wenig anatomische Kenntnisse und Erfahrung mit Ausrichtung haben. Hier muss der Lehrende sehr genau ansagen und führen können. Eine Partnerübung unterbricht den Fluss einer Yoga-Stunde noch mehr als eine Demonstration. Die Teilnehmenden reden miteinander, es wird laut und unruhig. Trotzdem sind für bestimmte Asanas (Handstand, Kopfstand) oder Themen (Verbundenheit, Einheit) Partnerübungen geeignet. Richtig angeleitet, verlieren die Teilnehmenden schnell die Angst vor der Berührung. Partnerübungen fördern Hilfsbereitschaft und das Gefühl von Gemeinschaft.
- Mit Hilfsmitteln: Ich unterrichte inzwischen keine Yogastunde ohne Hilfsmittel. Selbst fortgeschrittene Yogaschüler kommen leichter in die Stellungen, wenn sie mit einem Gurt den Arm verlängern, mittels Yogablöcken den Boden näher heranholen oder auf einer Decke sitzend das Becken aufrichten. Eine Wand ist nützlich für Stand- und Armbalancen oder Restorative-Yoga. Zusätzlich nutze ich Noppenbälle, Therabänder, Poolnudeln und Pilatesbälle, um funktionelle Ausrichtung spürbar zu machen. Am besten den Einsatz von Hilfsmitteln ebenso wie Hands-on schon bei der Konzeption der Stunde planen, damit der Unterrichtsfluss nicht durch nachträgliches Holen der Props gestört wird. Auch sollten die Hilfsmittel griffbereit neben der Matte liegen.
Die Einstellung beim Ausrichten
Worauf sollte man als Yogalehrer achten? Als Gebender kultiviert man Verantwortung, Hingabe und Empathie. Die eigene Ruhe, bewusste Atmung sowie gezielte Berührungen helfen den Empfangenden in einen meditativen Zustand. Der Yoga-Schüler kann vertrauensvoll den Assist annehmen. Er kann sein volles Potenzial entwickeln, weil er tief in seinem Selbst ankommt und so seine eigene Größe erfährt. Yogalehrende unterrichten nicht allein; eine höhere Kraft fließt durch sie hindurch. Man darf sich also ruhig auf seine Intuition verlassen.
Grundsätzlich sollte man als Yogalehrer nie einen Schüler ausrichten mit der Einstellung, dass etwas zu verbessern sei. Jeder Mensch ist von Natur aus gut, so wie er ist. Bevor man Hand anlegt, schaut man nach dem Schönen und Guten (shri) im Schüler. Zum Beispiel sein entspanntes Lächeln, seine Fähigkeit zum konzentrierten Praktizieren. Durch diese bejahende Wahrnehmung überträgt man positive Energie beim Anfassen.
Der Yogalehrende muss mit seiner eignen Energie haushalten, damit er am Ende einer Stunde nicht völlig ausgepowert ist. Um sich nicht zu überfordern oder gar zu verletzten, sollte man auf die eigene Ausrichtung achten. Ich empfehle eine Zentrierung vor Beginn und/oder ein Reinigungs-Ritual nach dem Unterrichten. Das Mantra „Sensibilität, Stabilität, Ausrichten (SSA)“ erinnert an eine für Schüler und Lehrer sichere Herangehensweise. Sensibilität: Vor der Berührung sammeln. Das Gute im Schüler sehen. Sich als Lehrer zurücknehmen. Stabilität: Für den eigenen sicheren Stand und eine gute Körperhaltung zum Selbstschutz sorgen. Ausrichtung: Jetzt erst kommt die Berührung. Bewusst Kontakt aufnehmen, klar und sicher im Alignment sein (straight & secure).
Übung macht den Meister! Das Ausrichten übt man am besten mit befreundeten Yogalehrenden, Freunden oder Familienmitgliedern. Bitte um Rückmeldung, wie die Handgriffe erfahren wurden und ob sie hilfreich waren. Assistiert man einem anderen Yogalehrer, hat man Zeit und Muße, sich auf die Hands-on zu konzentrieren und das eigene Feingefühl zu verbessern.
Zusammenfassend sollten Hands-on folgende Qualitäten haben: Mitgefühl, Freundlichkeit, Professionalität, Autorität, Sicherheit und Selbstbewusstsein.
Ausrichten in Yoga-Klassen
Der Unterrichtende sollte vorher erklären, warum er korrigiert und fragen, wer nicht angefasst werden möchte. Meine persönliche Erfahrung ist, dass die meisten Teilnehmer Assists gerne annehmen. Sie fühlen sich dadurch vom Yogalehrer gesehen und umsorgt.
In einer Klasse werden zuerst die Schüler korrigiert, bei denen eine akute Verletzungsgefahr besteht. Trotzdem sollte man – insbesondere in großen Gruppen – mindestens einmal jedem Schüler assistieren, damit sich keiner übersehen fühlt. In kleinen Gruppen kann man bei jedem Schüler Hand anlegen, wenn eine Stellung länger gehalten wird. Richtet man einen Schüler verbal aus, sollte man vorher Augenkontakt aufnehmen und ihn beim Namen nennen.
Einsteiger nicht zu viel korrigieren. Sie könnten schnell das Gefühl bekommen, dass sie nicht gut genug sind. Auf der anderen Seite sollte man die Fortgeschrittenen nicht vergessen. Auch diese können oft noch ein bisschen tiefer (sanft!), aber vor allem korrekter in eine Stellung geführt werden.
In jedem Asana gibt es so vieles zu beachten. Das überfordert die Schüler. Am besten konzentriert man sich auf ein oder zwei Ausrichtungsprinzipien, welche für die Ziel Asana wichtig sind (z.B. Innenrotation der Oberschenkel in Vorbeugen). Dann muss man den Mut haben, andere Korrekturen nicht anzusagen, auch wenn diese für einige hilfreich wären.
Trotz Hands-on sollte man die Schüler immer wieder anleiten, selbst in den Körper zu spüren und auszuprobieren, wie sie aufgrund von Erfahrungen, die sie durch Hilfestellungen gemacht haben, selbst besser in eine korrekte Ausrichtung kommen. Je fortgeschrittener ein Yogapraktizierender ist, desto mehr Verantwortung muss er für den eigenen Körper übernehmen.
Meine persönliche Erfahrung und Fazit
In 20 Jahren eigener Yogapraxis bin ich mit den Ausrichtungsprinzipien des Anusara Yoga und der Spiraldynamik ziemlich tief in der stehenden Vorwärtsbeuge angekommen. Kürzlich habe ich in einem Video von mir festgestellt, dass mein linkes Knie nicht ganz gestreckt war. Trotz meiner langjährigen Praxis habe ich das nie wahrgenommen. Dies bestätigen auch meine Erfahrungen als Yogalehrerin. Wenn ich Teilnehmende ausrichte, fragen sie mich, wie sie das selbst spüren sollen, ob sie die Stellung korrekt ausüben. Meine Antwort: durch den Vergleich wie sich die Stellung vor der Korrektur anfühlt und danach, dass man sich immer wieder von einem erfahrenen Lehrer korrigieren lassen muss und dass der Körper mit der Zeit feinfühliger wird. Deshalb zweifle ich an der Vorstellung, dass der Körper selbst den Weg in ein korrekt ausgerichtetes Asana findet. Wenn der Körper allerdings in die anatomisch korrekte Ausrichtung gefunden hat, bestätigt er dies mit einem positiven, lebendigen Wohlgefühl. Ein Beweis für mich, dass die Anusara-Ausrichtungsprinzipien und die Spiraldynamik richtige Methoden sind.
CLAUDIA DAHNELT ist Anusara Inspired Yogalehrerin und Fachkraft für Spiraldynamik Level Basic. Ihre Kenntnisse der Anatomie webt sie ebenso wie yogisch-philosophische Themen in ihren Unterricht. Mit ihrer Partnerin Katrin Lauer verbindet sie anatomisch korrektes Yoga, Philosophie und Ayurveda zu einem ganzheitlichen Konzept. www.yoga-lotusblume.de