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Der Atem, dein Freund (Prāņāyāma)

Atmung ist weit mehr als ein bloßer Austausch von Sauerstoff und Kohlendioxyd. Eine tiefe entspannte Atmung beeinflusst maßgeblich unsere Gesundheit und Vitalität. Weil Atem und Geist eng miteinander verbunden sind, wird der Atem im Yoga als direkter Zugang zur Seele gesehen. Die Yogis haben die Wirkung des Atems schon früh erkannt und uns ein wunderbares Vermächtnis hinterlassen: Prāņāyāma.

Der Hauch des Lebens

Das Leben beginnt mit dem ersten Atemzug und endet mit dem letzten. Im Durchschnitt atmen wir zwölf Mal pro Minute, 720 Mal in der Stunde, 17.280 Mal am Tag und bis zu einer halben Milliarde Mal im Leben. Die indischen Weisen waren der Meinung, dass jeder Mensch in seinem Leben nur eine bestimme Anzahl an Atemzügen hat. Um lange zu leben, müsste man folglich sparsam mit diesem kostbaren Gut umgehen. Deshalb entwickelten sie Atemtechniken, die den Atemrhythmus verlangsamen und zu Pausen zwischen Ein- und Ausatmung führen. Mittels Prāņāyāma kann der Atemzyklus auf 8 oder gar 6 Atemzüge pro Minute verringert werden.

Der Atem zählt zu den wichtigsten unwillkürlichen Körperfunktionen. Um Energie für körperliche Aktivitäten zu gewinnen werden in den Muskeln Sauerstoff und Blutzucker verbrannt: ohne Atem keine Lebensenergie (Prāna). Deshalb kann niemand ohne zu atmen länger als ein paar Minuten leben. Weil die Atmung so lebenswichtig ist, wird diese Körperfunktion als einzige durch eine doppelte Steuerung gesichert:

  • Die autonome Atmung garantiert, dass der Atemprozess ohne Unterbrechung weitergeht.

  • Die willkürliche Atmung ermöglicht uns Rhythmus, Tiefe und Dauer der Atemzüge zu ändern.

Die Wirkung der Yoga-Atmung

Eine regelmäßige Prāņāyāma-Praxis führt zum Anstieg des Sauerstoffpegels im Blut. Je mehr Sauerstoff unser Blut transportiert, desto effizienter können Körperzellen ihre Aufgabe ausführen. Die Lunge wird besser durchblutet was ihre Leistungsfähigkeit (Vitalkapazität) erhöht. Dies führt zu einem optimierten Herzrhythmus, da sich der Sauerstoffbedarf verringert, der Puls ruhiger schlägt und der Blutdruck sinkt. Ein ruhiger, gleichmäßiger Atem wirkt zudem auf den parasympathischen Teil des vegetativen Nervensystems, zuständig für die Erholung und Regeneration des Körpers.

Da die Atmung auch einen unmittelbaren Einfluss auf die Psyche und Gefühlswelt des Menschen hat, sorgt das tägliche Üben für emotionales Gleichgewicht. Es beugt Überlastung und Angstzuständen vor, der Mensch fühlt sich freier und unbeschwerter. Ein allgemeines Wohlbefinden und ein Gefühl von Wachheit und Energetisierung stellen sich ein. Weitere positive Wirkungen sind: eine allgemein bessere Gesundheit, eine gute Verdauung, eine klare Stimme, erhöhte Konzentrationsfähigkeit und der Praktizierende bleibt länger jung.

Lebensqualität durch gesunde Atmung

Vielen Menschen ist nicht bewusst, dass sie geistig und körperlich in der Atmung blockiert sind, weil die Atmung unwillkürlich gesteuert wird. Moderne Lebensumstände wie Luftverschmutzung, mangelnde Bewegung und Stress schränken die Qualität des Atems zunehmend ein. Die meisten Menschen nutzen nur einen Bruchteil ihrer Lungenkapazität von 4 – 6 Litern Atemvolumen pro Atemzug nutzen.

Die autonome Programmierung der Atmung sorgt dafür, dass bei Bewegung die Kohlendioxydwerte ansteigen, was wiederum den Impuls zum tiefen Atem einleitet. Durch die heutzutage oft übliche Sitz-Beuge-Haltung ist zum einen das für eine tiefe Einatmung notwendige Weiten und Heben des Brustkorbes eingeschränkt. Zum anderen fehlt die körperliche Anstrengung als Signal für ein tiefes Atmen. Dabei benötigt das Gehirn für geistige Arbeit mehr Sauerstoff als ein aktiver Skelettmuskel. Da die Atmung jedoch flach bleibt, erhält unser Gehirn nicht genügend Sauerstoff und ermüdet rasch.

Prāņāyāma wirkt dem Atem-Dilemma des modernen Menschen entgegen. Wir machen uns gewohnheitsmäßige, falsche Atemmuster gegenwärtig und lernen durch ein verbessertes Atem-Bewusstsein auch im Alltag die Atmung bewusst zu regulieren sowie rhythmisch und tief zu atmen.

Reinigung und Befreiung des Atems

Der Betriff prāņāyāma setzt sich aus den Wörtern „pra“ (füllen, sättigend, Erfüllung), „āna“ (Atem) und „āyāma“ (Kontrolle, Regulierung, Hemmung) zusammen und kann mit „Technik zur Atemregulierung oder Atemkontrolle“ übersetzt werden. Prāna bedeutet auch Lebenskraft, Lebensenergie, Lebensatem oder Lebenshauch. Prāņāyāma ist also auch das freie Fließen der Lebensenergie in unserem Organismus. (Richard Wehler, Deutsches Yoga-Forum, Heft 02, 04/2016)

Atemübungen aber auch die Körperübungen des Yoga befreien die Atemmuskulatur und Faszien von Spannungen. Nase, Nebenhöhlen, Luftrühre und Bronchien werden gereinigt. Durchblutung, Lymphfluss und Zellatmung werden durch die Visualisierung von feinstofflichen Energiebahnen im Körper angeregt. Das aktiviert die Selbstheilungskräfte und bringt die Lebensenergie Prāna zum Fließen.

Atemübungen sind ein essenzieller Bestandteil der Yoga-Praxis, denn sie trainieren in erster Linie die Achtsamkeit. Die Verfeinerung der Atmung, Atem-Achtsamkeit und Atem-Lenkung in die Atemräume schulen den Geist, so dass die Gedanken zur Ruhe kommen und der Zustand des Yoga erreicht wird (yogaś citta-vṛtti-nirodhaḥ). Atemübungen führen Körper und Geist zusammen und sind eine wichtige Vorübung für die Meditation.

Prāņāyāma sollte man von einem erfahrenen Lehrer erlernen, um die Atemorgane gezielt auf die unterschiedlichen Übungen vorzubereiten. Falsch angewendet und mit zuviel Ehrgeiz geübt, können die positiven Wirkungen verloren gehen und sich gar ins Negative umkehren.

Zunächst nehmen wir unserer Atmung wahr, um anschließend die Atemkapazität achtsam und langsam zu steigern. Die Dauer des Luftanhaltens (Kumbhaka) wird sukzessive und individuell ausgedehnt, so dass sich das Atemanhalten angenehm anfühlt. Je sanfter du auf deinen Atem einwirkst, desto tiefgreifender werden sich die positiven Wirkungen zeigen, denn der Atem ist ein Kind der Freiheit.

Der Atem als großer Lehrmeister

Die wahre Kraft des Yoga erschließt sich nur über den Atem. Asanas, Prāņāyāma und Meditation helfen uns nicht nur, Prāna, die Lebensenergie aufzunehmen, sondern diesen Energiespeicher im Alltag ressourcenschonend einzusetzen. Eine integrale Yoga-Praxis ist somit die Grundlage einer verbesserten Lebensqualität inmitten der Anforderungen unserer modernen Gesellschaft.

Je achtsamer wir atmen, desto mehr wird jeder Atemzug zu einem Geschenk, das wir immer und überall empfangen und in seiner Lebendigkeit und Fülle genießen können. In der inneren Stille, die wir dann wahrnehmen, spüren wir unsere tiefe Verbundenheit mit allem. Prāņāyāma ist ein Weg, uns dorthin zu führen.

(Claudia Dahnelt - Lotusblume Yoga & Ayurveda, Frankfurt, Juni 2016)

Atmend erfahren wir unsere Lebendigkeit.

Russel Delman
Atme ein und Gott nähert sich dir. Halte den Atem an und Gott bleibt bei dir. Atme aus und du näherst dich Gott. Halte die Atemstille und gibt dich dem Göttlichen hin.
Krishnamacharya